Deutsche Geschichte als Familientrauma – Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück

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In der kommenden Woche beginnt die Frankfurter Buchmesse und es steht damit auch die Vergabe des Deutschen Buchpreises an. Seit Jahren lese ich viele Bücher, welche für diesen Preis nominiert sind. Erstmals möchte ich in diesem Jahr alle 20 Titel der Longlist lesen und auf diesem Blog besprechen. Unabhängig davon, welcher Titel schlussendlich durch eine Jury zum besten Roman des Jahres erklärt wird, finden sich auf dieser Liste Bücher, denen ich Aufmerksamkeit bescheren möchte.

Da es nun schon eine Shortlist gibt, möchte ich zunächst mit den Titeln dieser Liste beginnen. 

Zweites nominiertes Buch, welches ich besprechen möchte, ist „Die Möglichkeit von Glück“ von Anne Rabe, erschienen bei Klett-Cotta.

„Meine Suche war gründlich, aber dennoch bleibt die Geschichte von Opa Paul ein unvollständiges Puzzle, und die Teile, die ich habe, könnte ich zu ganz verschiedenen Bildern zusammensetzen.“

Rabe, Anne: Die Möglichkeit von Glück, 2023, Klett-Cotta Verlag, S.242.

Dieser Roman hat mich schnell gepackt, denn der Aufbau des Buches schafft es, bedrückende Momente und gleichzeitig historische Analysen mit ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft zu liefern. Es geht um eine Familiengeschichte, wie sie fast jeder von uns anhand der deutschen Geschichte liefern kann. Allerdings kann dies nicht jede Person mit einem ostdeutschen Hintergrund. Anne Rabe liefert aber genau eine solche Geschichte und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Literatur, die sich mit der Aufarbeitung ostdeutscher Geschichte beschäftigt. Die Ich-Erzählerin berichtet rückblickend auf eine Kindheit, die durch einen Großvater geprägt wird, der ihr viele schöne Stunden geschenkt hat. Gleichzeitig hat dieser Großvater eine Einstellung, die deutliche Unterstützung für das DDR-Regime signalisiert. Der Großvater ist geprägt von den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der NS-Diktatur. Wie weit die Unterstützung reicht, bleibt trotz Recherchen der Erzählerin unklar. Ihre Mutter erzieht die Kinder mit teilweise brutal anmutender Härte, die sich in körperlicher Gewalt ausdrückt. Das Verhältnis zur Erzählerin leidet für die nachfolgenden Jahre, und die erlebte Gewalt lässt sich nur schwer verarbeiten und hat psychologische Auswirkungen. Die Reaktion der Mutter auf diese Entwicklung ist wiederum, der eigenen Tochter die Fähigkeit, Mutter zu sein, abzusprechen.

All dies erzählt uns eine Frau, die sich selbst ermutigt, ihr Leben trotz der bisher gemachten Erfahrungen positiv anzugehen. Immer wieder durchbrechen ihre Gedanken und Erinnerungen die Eigenwahrnehmung als stabile Person. Das große Thema dieses Romans ist die Verarbeitung intergenerativer Familientraumata. Ich habe dies bisher in noch keinem Roman gelesen. Für mich hat dieses Buch verschiedene Spannungsläufe, denen ich gebannt folge. Zu nennen sei die Recherche zum Leben des Großvaters, die Versuche der Mutter, die Enkelin zu beeinflussen oder die Erläuterungen zum psychischen Zustand der Erzählerin. Anne Rabe verwebt verschiedene Elemente einer Familiengeschichte zu einer Erzählung, die immer wieder die „Möglichkeit von Glück“ in den Himmel zeichnet, aber nie der Illusion hingibt, dies zu erreichen.

„Ich würde gern das Knäuel der Familiengeschichte entzerren, geduldig, Knoten für Knoten lösen, es neu aufwickeln und am Ende des Fadens anlangen. Aber es geht nicht. Es gibt nicht das eine Knäuel, das es zu entwirren gilt.“

Rabe, Anne: Die Möglichkeit von Glück, 2023, Klett-Cotta Verlag, S.228.

Dieser Roman berichtet uns, wie die Beschädigungen eines Lebens auf die jeweiligen Nachfahren übergehen. Anne Rabe findet in knappem Stil die richtigen Worte, um die erlebte Gewalt zu schildern. Rabe lässt in ihrer Darstellung gekonnt Lücken, die sich jedoch bei der Leserschaft sofort füllen und somit ist Sprachlosigkeit in diesem Roman ästhetisches Mittel und gleichzeitig die einzige Form, über das Erlebte zu erzählen. Für mich gelingen in diesem Roman alle künstlerischen Kniffe. Ich möchte überhaupt nicht beurteilen, wie hoch der Grad der Autofiktion in diesem Buch ist. Es ist unerheblich für die Qualität und den Realismus der Story. Das Schweigen über die Disziplinierung durch falsche Methoden und mögliche Parallelen zu anderen Momenten deutscher Geschichte wird in diesem Roman erkennbar und an den wichtigen Stellen gekonnt reflektiert. Diese Familiengeschichte kann eine Collage verschiedener realer Geschehnisse sein und wird in der fiktionalen Anordnung zu einem geschichtlichen Sittenbild. Die Totalität der gesellschaftlichen Struktur wirkt in die Familiengeschichte hinein und doch sind nur wenige Stellen zu lesen, die behaupten, nie die Möglichkeit von Glück zu haben. Anne Rabe packt mich an so vielen Stellen emotional und sorgt für Aha-Effekte, dass ich diesem Buch eine hohe poetische Kraft zuspreche.

Fazit

Dieses Buch ist mein persönlicher Favorit für den Deutschen Buchpreis. Es erzeugt Spannung und bietet beklemmende Momente. Mir ist bisher noch kein Roman begegnet, der auf solch berührende Art und Weise ein intergeneratives Trauma anhand der deutschen Geschichte erzählt. Anne Rabes Buch ist eine wichtige literarische Verarbeitung ostdeutscher Geschichte und reiht sich damit wunderbar in aktuelle Diskurse ein. Diesem Buch wünsche ich eine große Leserschaft und damit auch die Möglichkeit, Verständnis für andere Lebensentwürfe und deren Hintergründe zu erlangen. Für mich ist dieser Roman die Einlösung des Wunsches nach Leseglück.

Werbung aus Liebe zum Buch

Wertung: 🐧🐧🐧🐧🐧

Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück

ISBN: 978-3-608-98463-7

https://www.klett-cotta.de/produkt/anne-rabe-die-moeglichkeit-von-glueck-9783608984637-t-5465

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