Lucadou, Julia von: Die Hochhausspringerin – Rezension

Ich kenne Riva, sagt er. Ich habe ihre frühere Karriere verfolgt. Sie ist etwas Besonderes. Sie ist kreativ. Sie ist nicht eine dieser Springerinnen, die nur Standardfiguren perfektionieren. Die immer nur das ausfüllen, was ihnen vorgegeben wurde. Egal, wie gut man etwas macht, wenn es nur ein Ausfüllen der Vorstellung eines anderen ist, ist es sinnlos. Perfektionismus ist kein Kompliment. Keiner will das zugeben, aber es stimmt. Was zählt, ist Kreation!

Lucadou, Julia von: Die Hochhausspringerin, S.156 Hanser Berlin 2018.

In diesem Zitat drückt sich für mich die Grundstimmung des Romans aus, die Julia von Lucadous Debütroman durchzieht. Die Hochhausspringerin Riva ist eine Art Unterhaltungskünstlerin, die sich von Hochhäusern in die Tiefe stürzt. Eine hochtechnisierte Überwachungsgesellschaft braucht sie als Ablenkung. Große Datenmengen lassen Muster entstehen, an denen Verhalten gemessen wird und jeder strebt nach Selbstoptimierung. Als sie ausbrechen will, beginnt eine Reflektion über diese Gesellschaft. Mich hat diese Dystopie mit ihrer schnörkellosen Darstellungsweise beeindruckt. Es wird eine zukünftige Welt mit einfachen Beobachtungen geschildert, die beim Lesen und Betrachten der eigenen Umwelt auf einmal gar nicht mehr so weit weg erscheint. Die Handlung nimmt dabei für mich nur eine Nebenrolle ein, entscheidend sind diese feinen Beobachtungen und die Begeisterung, die sie in mir wecken.

Um was geht es?

Riva ist ein Star des Leistungssports Hochhauspringen und ihr Leben ist durchgehend in den sozialen Medien zu verfolgen. Plötzlich möchte sie aus diesem Leben ausbrechen, nicht mehr trainieren und ihre Karriere beenden. Dies stört einige Sponsoren, die nun über eine Wirtschaftspsychologin versuchen Riva zum Umdenken zu bewegen. Sollte dies nicht gelingen, droht beiden die Gefahr in die verwahrlosenden Peripherien der Städte verstoßen zu werden.

Mein Eindruck vom Buch

Einige meiner ehemaligen Kolleginnen werden sich bei dieser Rezension ein Lachen nicht verkneifen können. Schließlich habe ich bei Erscheinen des Buches jedem erzählt, dass dieser Roman für den Deutschen Buchpreis nominiert werden müsste. Naja, es kam anders und die Jury des Deutschen Buchpreises und ich sind selten einer Meinung. Doch für mich blieb diese Dystopie eines der schönsten Leseerlebnisse der letzten Jahre. Das Lesen brachte mir eine Gesellschaft nahe, die sich ständig versucht selbst zu optimieren und idealisierten Vorbildern nacheifert. Die Gesellschaft wird in brave Bürger*Innen und in jene getrennt, die sich nicht diesen Idealen unterwerfen wollen. Ich möchte dies gar nicht auf die aktuelle Corona-Pandemie beziehen, sondern auf die in unserer Gesellschaft schon vor dieser Pandemie angelegte Fixierung auf immer höheren Leistungsdruck.

Während ich mich durch die wachsende Menge der Dateien auf dem Server klicke, komme ich mir plötzlich verloren vor, als bewege ich mich auf nicht kartografiertem Terrain. Was, wenn ich das Wesentliche verpasse, immer nur ein Fragment der Wahrheit betrachte, dessen Bedeutung mir verschlossen bleibt?

Lucadou, Julia von: Die Hochhausspringerin, S.44 Hanser Berlin 2018.

Diese Gedanken der Wirtschaftspsychologin Hitomi zeigen die Abhängigkeit von Daten in dieser technisierten Welt. Nur durch Datensammlungen sind Verhaltensmuster zu bestimmen, jede nicht vorhersehbare Handlung deckt nur Lücken in diesem System auf. Die skizzierte Gesellschaft präsentiert uns eine Zukunft, in der soziale Leistungen und die Stellung in der Gesellschaft sich einzig und allein danach richten, inwieweit man sich den Leistungszielen unterordnet. Die Menschen sind fest verankert in dem Gedanken sich selbst zu optimieren, für Ärmere ist nur dies der Weg in eine bessere Zukunft. Riva ist eine Figur, deren Sensibilität sich nur spärlich aus dem Text ergibt, aber aus meiner Sicht sind es nicht die Figuren die im Vordergrund stehen. Nein, es sind die Reflektionen deren Zeuge wir durch Riva und Hitomi werden und die feinen Beobachtungen der Gesellschaft. Die Idee das Hochhauspringen als Metapher für geduldete gesellschaftliche Ausbrüche zu nehmen, finde ich ebenfalls spannend. Auch dies ist nicht weit weg von den vermarkteten Extremsportarten unserer Zeit. In diesen geht es nicht mehr um den Kampf gegen die Natur, sondern der Kapitalismus hat sich diese Sportarten längst einverleibt. All diese Nähe zu mir Bekanntem macht den Roman bedrohlich und spannend zugleich. Gerade deshalb möchte ich seine Lektüre empfehlen, denn er macht die Gefahren eines Systems deutlich, welches unsere Gesellschaft nach finanziellen Aspekten optimiert.

Werbung aus Liebe zum Buch

Julia von Lucadou:

Die Hochhausspringerin

btb

ISBN: 9783442719730

Preis: 10,00€

Julia von Lucadou: Die Hochhausspringerin (Taschenbuch) – bei Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Die Hochhausspringerin – Bücher – Hanser Literaturverlage (hanser-literaturverlage.de)

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