Ohde, Deniz: Streulicht – Rezension

Warum wollte ich gehen. War es nur gewöhnlicher jugendlicher Tatendrang und Erlebnishunger oder lag es an diesem Ort, diesem spezifischen Fleck Erde, an dem die Luft einen anderen Geschmack hatte und der Schnee eine andere Beschaffenheit. Lag es daran, dass es eine unsichtbare Wand zwischen mir und dem Ort gab, nicht identisch mit den Mauern des Industrieparks, nicht identisch mit der Schneegrenze, aber doch mit ihnen in Zusammenhang stehend. Eine Wand, die Pikka nicht sehen konnte, Sophie nicht sehen konnte und die bewirkte, dass ich nicht dazugehörte, sosehr ich auch wollte …

Ohde, Deniz: Streulicht, S.22 Suhrkamp 2020

Zugehörigkeit und Identitätsentwicklung sind wichtige Themen unserer Zeit. Deniz Ohde, dies zeigt das Zitat, behandelt dies eindrücklich in ihrem Roman „Streulicht“. Für ihr Debüt hat die Autorin den Preis der Jürgen Ponto Stiftung, sowie den Aspekte Literaturpreis erhalten. Des weiteren stand der Roman auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. In der Jurybegründung heißt es, dem Roman gelinge den Blick auf ein oftmals verdecktes Milieu zu werfen und dies unseren hohen gesellschaftlichen Zielen entgegen zu stellen. Beeindruckend ist das dies aus der Sicht einer Heranwachsenden, für die Leserschaft nachempfunden wird.

Um was geht es?

Eine namenlose Erzählerin berichtet in Rückblenden von ihrem Aufwachsen in einer Industriesiedlung. Ihre Mutter hat die Familie eines Tages verlassen, der Vater, vorher schweigend, verfällt dadurch in Gewaltphantasien. Immer wieder muss die Protagonistin feststellen, dass sich in ihren Leben Mauern aufbauen, die ihre persönliche Entwicklung bremsen. Ihre Freundinnen können diese Mauern nicht erkennen. Die Erzählerin wählt die nötigen Umwege um voran zu kommen. Der Roman wird so zur nachträglichen Spurensuche dieser Wege und zeigt wie sich die junge Frau zu ihrem Ziel kämpft.

Mein Eindruck vom Buch

Deniz Ohde widmet sich einem wichtigen Themenfeld. Der Roman wurde in vielen Rezensionen gelobt und hierbei wird die Besonderheit der weiblichen Perspektive herausgestellt. Dies ist allerdings nicht der erste Roman, der mir in dieser Hinsicht auffällt. Ich würde vielmehr als Besonderheit die Einnahme der Heranwachsenden-Perspektive herausstellen, obwohl in Rückblenden erzählt wird der kindliche Blick nicht verletzt.

Der Roman präsentiert eine Erzählerin, die Fremdheitserfahrungen, Ausgrenzungen und Angst verspürt. Es wirkt als sei der Erzählvorgang nochmals eine nachgelagerte Versicherung des schwierigen Lebensweges. Für uns als Leserschaft wird deutlich, wie schwer Rollen zu finden sind, wenn man von vielen gängigen Lebenswegen abgeschnitten ist. Zuhause fordert der Vater ein Stillsein und keine Rebellion. Er warnt vor den Problemen, die ein Dazugehören mit sich bringen wird. Dabei verkennt er die Probleme seiner Tochter und scheitert am Erziehungsauftrag. Jedoch schafft es der Roman, dass man ihm dies nicht direkt übel nimmt, sondern das Scheitern auch als ein systematisch angelegtes wahrnimmt.

Außerhalb des Elternhauses ist die junge Frau bemüht gegen ein Verschwinden anzukämpfen. Sie fürchtet übergangen zu werden, aber nicht weil sie in der Masse untergeht, sondern weil sie als Außenstehende überhaupt nicht wahrgenommen wird. Das Umfeld des Industrieviertels scheint hier noch eine besondere Einschränkung zu liefern. Dies zeigt auch das eingangs erwähnte Zitat. Es geht also auch darum diesem Umfeld zu entkommen, um einen anderen Blickwinkel zu erhalten.

Eindrücklich beschreibt der Roman diese Problematik und spielt auch mit den Grenzen von Sprache, wenn zum Beispiel Naturbilder metaphorisch die Trennung verdeutlichen. Man möchte den pädagogischen Begleitern des Lebensweges an vielen Stellen zurufen, dass sie der jungen Frau Mut zusprechen sollte. Doch es ist vor allem die Protagonistin selbst, die ihren Weg energisch geht und ihr Ziel erreicht. Dieses Buch ist keine Erfolgsgeschichte, sondern eine Dokumentation des Systemscheiterns. Begriffe wie Chancengleichheit werden gerne gebraucht, doch dieses Buch zeigt, dass sich hinter den sprachlichen Begriffen eine Realität verbirgt, die nicht allein durch Sprache zu ändern ist. Dies ist für mich der entscheidende Aspekt des Romans, den ich auch erst durch angeregtes Nachdenken über das Buch erfasst habe. Als Kind erfährt man nur diese Grenze, ohne dass es einen Blick für die Hintergründe geben kann. Der Roman findet für diese Empfindungen Worte und ist deshalb zum Lesen zu empfehlen.

Deniz Ohde:

Streulicht

Suhrkamp

ISBN: 978-3-518-42963-1

Preis: 22,00€

https://www.suhrkamp.de/buecher/streulicht-deniz_ohde_42963.html

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert