Tellier, Hervé le: Die Anomalie – Rezension

Bei Instagram kam man die letzten Wochen an einem Titel nicht vorbei und dies war „Die Anomalie“ von Hervé le Tellier, erschienen im Rowohlt Verlag. Ich habe diesen Titel zudem von einem ehemaligen Kollegen empfohlen bekommen und nun endlich den Prix Goncourt Gewinner von 2020 gelesen. Wie in den vergangenen Jahren muss ich festhalten, dass mich die französischen Preisträger immer wieder aufs Neue begeistern. Vor allem, da Themen und Handlungen präsentiert werden, die ich so in der Deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seltener ausmachen kann. Der eigentliche Plot dieses Romans lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen, bietet aber unglaubliches Potential. Im März 2021 befindet sich eine Boeing-Maschine auf dem Weg von Paris nach New York. Auf diesem Flug gibt es Turbulenzen und die Maschine landet in einem elektromagnetischen Wirbelsturm. Doch es kommt zur glücklichen Landung. Alles scheint erledigt zu sein, bis im Juni die gleiche Maschine, mit den gleichen Passagieren nochmals landen möchte. Alle stehen vor einem Rätsel und die Passagiere scheinen exakt verdoppelt.

Das Rätsel um das Versuchsergebnis

Wow was für ein Plot! Allein diese Idee verlangt nach der Lektüre dieses Romans. Ich kann verstehen, dass dieses Buch so viel Wirbel bei Bookstagram gemacht hat und kann auch verstehen, dass es immer wieder zu unterschiedlichen Einschätzungen kommt. Entweder der Plot packt einen beim Lesen, oder  er lässt einen etwas ratlos zurück. Mich hat die Grundidee des Buches förmlich umgehauen und mich sofort in einen Lesesog gerissen. Im ersten Teil des Romans werden die Passagiere vorgestellt und deren jeweilige aktuelle Situation beleuchtet. Wir bekommen nicht ihre Biographie, sondern greifen sie in einem Moment. Durch dieses Konstrukt wird der zeitliche Aspekt betont, der für den Dopplungseffekt entscheidend ist. Manche Kritiken empfanden hier bestimmte Figuren zu hölzern und erkannten auch Klischees. Dies kann ich nicht wegdiskutieren, aber halte dies auch für kein Problem. Wichtiger ist es für den Plot, dass wir eine Vielfalt an Charakteren haben. Denn dieser Roman versteht sich als Versuchsanordnung. Im ersten Part bemerkt man, dass hier ein kurioses Geschehnis vor sich geht. Ab diesem Zeitpunkt legt man das Buch nicht mehr aus der Hand. Der zweite Teil des Romans ist für mich der stärkste, da wir hier sehen, wie Regierungsorganisationen sich mit dem Geschehnis auseinandersetzen. Die rationale Welt möchte das Unverständliche fassen und gleichzeitig festlegen, wie es weiter gehen soll. Tellier ergeht sich nicht in Sprachspielen, sondern legt den Figuren die Worte in den Mund, die ihrem Charakter entsprechen. Dies zeichnet auch den zweiten Teil aus, den man sich ähnlich auch in der Realität vorstellen kann.

„Ich bin du, du bist ich. Das ist etwas viel, wir können nicht zwei sein.“

Tellier, Hervé le: Die Anomalie, S.226, Rowohlt Verlag 2021.

Dieses Zitat bringt die Quintessenz des Romans auf den Punkt. Was soll mit den nun verdoppelten Personen passieren? Können Beide zusammen leben? Wie erklärt man das Geschehene der Öffentlichkeit? Diese Fragen werden im zweiten Teil wunderbar dargestellt. Es ist spannend zu sehen, wie Regierungen überlegen, welche Informationen sie teilen und gleichzeitig musste ich an der ein oder anderen Stelle auch lachen. Der Roman wird aufgrund dieser gelungenen Kombination eine spannende und unterhaltsame Mischung aus Science-Fiction und Thriller. Die Figuren treffen aufeinander, sehen also ihr nur Monate älteres Ich vor sich. Wer an dieser Stelle klare Reaktionsmuster bei allen erwartet wird überrascht werden. Der Text bewegt mich durch diese Konstellation, integriert auch tragische Momente. So haben wir zum Beispiel einen todkranken Familienvater, für den es vielleicht nochmals eine neue Chance geben kann. Eine Metaebene gibt es ebenfalls und zwar durch einen französischen Autor der sich selbst umgebracht hat und einen Roman genau mit dem Titel „Die Anomalie“ geschrieben hat. Posthum wird er berühmt, nur um dann wieder aus dem Flugzeug auf die Weltbühne zurückzukehren. Hochphilosophisch kann man sich an diesen Stellen mit dem eigenen Leben, getroffenen Entscheidungen und neuen Chancen oder Wiederholungen beschäftigen. Dem Ende hätte ich an der ein oder anderen Stelle gerne etwas mehr Raum eingeräumt. Die Entscheidungen der Figuren, wie sie mit der Dopplung umgehen, wirken an einigen Stellen sehr rational, an anderen Stellen leicht überhastet. Trotzdem ist es insgesamt ein äußerst gelungener Roman. Die Figurenvielfalt lässt in Teil drei die Möglichkeit, Humor, Tragik und Widersprüche auftreten, zu lassen die wir alle auch aus unserem Alltag kennen. Das zufällige Ereignis mit seinen fast nicht zu verstehenden Auswirkungen wird schnell in den Alltag integriert und macht die Frage auf, ob wir wirklich so anpassungsfähig sind und uns einem Naturphänomen unterwerfen können.

Klug, unterhaltsam und lesenswert

Dieser Roman sollte viele Leser finden. Er ist unglaublich gut gebaut, hat einen erfrischenden Plot und integriert viele gesellschaftliche Aspekte in seiner Figurenvielfalt. Gebannt liest man dieses Buch und denkt ständig darüber nach, wie man selbst mit dieser Situation umgehen würde. Mich hat das Buch mehrere Tage beschäftigt und ich fand jeden Teil unterhaltsam. Zu Recht haben unsere französischen Nachbarn diesen Roman ausgezeichnet und für mich halte ich erneut fest, dass ein Blick in die französische Gegenwartsliteratur für mich immer lohnenswert ist. Ich wünsche viel Vergnügen bei der Lektüre.

Werbung aus Liebe zum Buch

Wertung: 🐧🐧🐧🐧

Hervé le Tellier:

Die Anomalie

ISBN: 978-3498002589

Preis: 22,00€

Die Anomalie – Hervé Le Tellier | Rowohlt

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