Gospodinov, Georgi: Zeitzuflucht

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Heute bespreche ich einen Roman, auf den ich im letzten Jahr durch einen Beitrag bei Deutschlandfunk Kultur aufmerksam geworden bin. Ein Roman, der eine Klinik für die Vergangenheit erfindet und sich damit auch der Verklärung von Vergangenem widmet, dies klang wirklich äußerst interessant. Frisch vor einigen Wochen erschienen ist zudem das Taschenbuch des Romans und so bespreche ich heute tatsächlich auch eine Neuerscheinung. Georgi Gospodinovs Roman „Zeitzuflucht“ ist im Aufbau Verlag erschienen und seit diesem Jahr auch als Taschenbuch verfügbar. Der Roman wurde 2023 mit dem International Booker Prize ausgezeichnet.

„Gaustin zufolge ist die Vergangenheit vergangen, und selbst wenn wir uns dorthin begeben, wissen wir, dass die Tür in die andere Richtung offensteht, wir können problemlos zurückkehren. Für die vom Gedächtnis Verlassenen ist diese Tür für immer zugefallen. Für sie ist nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart ein fremdes Land, die  Vergangenheit ist ihre Heimat.“

Gospodinov, Georgi: Zeitzuflucht, 2023, Aufbau Taschenbuch Verlag, S.53.

Die geschilderte Welt in diesem Roman ist vielleicht nicht so weit von uns entfernt, zumindest die immer älter werdende Gesellschaft und eine Verbreitung von Demenzkrankheiten können wir nicht von uns weisen. Ein Freund des Ich-Erzählers erweist sich als Visionär, in dem er eine Klinik für die sich ausbreitende Krankheit schafft. In dieser Klinik sollen vergangene Zeiträume wieder auferstehen und damit den Kranken eine Heimat der Orientierung bieten. Auf verschiedenen Etagen entstehen die unterschiedlichsten Zeitebenen und erinnern die Bewohner:Innen an vergangene Abschnitte ihres Lebens. Damit ist die Klinik Ort der Erinnerung und einer Rückführung in jüngeres Wohlbefinden und zugleich Therapieort. Die Etagen werden somit zu Schutzräumen für die Bewohnerschaft und der Ich-Erzähler erfährt die beruhigende Wirkung am eigenen Leib, als er in die eigene Kindheit blickt. Die Vergangenheit soll lebendig wirken und so sind die Schutzräume keine musealen Räume. Vielmehr werden auch Geschichten, Gerüche und Geräusche gesammelt, um den Patienten ein Gefühl der Lebendigkeit in den Räumlichkeiten zu verschaffen. Der Roman hat in dem ersten Teil, in dem er die Einrichtung der Klinik beschreibt, eine hohe emotionale Wirkung. Die Idee eine Krankheit des Vergessens mit einem Verdrängen durch erinnertes Bekanntes entgegen zu wirken hat viel Trostvolles in sich. Doch der Roman wird noch stärker, da er sich jedweder Verklärung verweigert. Die Obsession für das Vergangene kann nämlich auch in gefährliche Umdeutungen schlagen. Uns allen ist die Aussage „Früher war alles besser.“ ein Begriff und wir wissen, dass Erinnerung an Vergangenes auch rechtspopulistisch genutzt wird. Durch das Hervorrufen glücklicher vergangener Bilder verdrängt man beim Erinnern die negativen Aspekte. Niemand möchte sich schließlich an schlechte Zeiten erinnern. Der Erfolg der Klinik führt dazu, dass auch die Gesunden sich eine Flucht in die Vergangenheit wünschen. Es geht darum im Bekannten Orientierung zu finden und so veranstalten Staaten Referenden um sich ein bestimmtes Jahrzehnt auszusuchen. Hier zeigt der Roman in seiner klugen Komposition, dass jedes Jahrzehnt auch dunkle, beziehungsweise nicht positive Zeiten mit sich bringt. Zudem sind bei Jahren des Aufstieges auch immer jene des Abstiegs, zu bedenken. Bei den Rückblenden in das Vergangene werden die schlimmen Stunden nicht vergessen und zugleich entlarvt, zu welchen dunklen Erinnerungen bestimmte Länder und Menschen bereit wären. Mit diesem Kniff im zweiten Teil des Romans, erhält das Buch eine weitere zeitdiagnostische Ebene. Es zeigt sich, dass im Blick ins Vergangene auch schon immer eine gewisse Akzeptanz von Geschehnissen steckt.

Georgi Gospodinov hat aus einem Wunsch heraus, sich der schlimmen Krankheit Demenz mit utopischer Fantasie entgegenzustellen, einen Roman verfasst, der die Kipppunkte einer Flucht in die Vergangenheit in sich aufnimmt. Der Ich-Erzähler ist scharfsinniger Beobachter des Geschehens und zeigt zugleich anhand der eigenen Erfahrung, wie die Klinik mit ihrer Einrichtung Wirkung entfaltet. Der Gedanke mit kindlicher Erinnerung in glücklichere Momente zurückzufallen ist tröstlich und zugleich auch enttäuschend, denn dies bedeutet auch, dass man Gelebtes wieder abgeben muss. Ich finde die Grundidee des Buches grandios und das aus einem utopischen Moment heraus dystopische Fragestellungen werden, setzt dem Buch eine weitere Krone auf. Den zweiten Teil musste ich etwas langsamer lesen, mir mehr überlegen, welches Jahrzehnt für bestimmte Menschengruppen, welche Auswirkungen hat. Im Nachdenken wird dann spürbar, wie schnell man nur an helle Momente der Geschichte denkt und wie schnell man auch die eigenen Vorteile der Geschichte für sich verbucht, ohne sich jegliche Gedanken über die möglichen Verluste anderer zu machen. Dieser Roman erzählt keine zwischenmenschlichen Einzelbeziehungen, sondern er analysiert Grundlagen, die unser Zusammenleben prägen. Das Buch vereint in seinen Szenen philosophische, soziale, politische und emotionale Argumentationsmuster und ist deshalb ein berührender Gegenwartsroman.

Fazit

Dieser Roman ist wahrlich großartig, weil er sich mit dem Altern in unserer Gesellschaft beschäftigt und auch damit, wie wir rückblickend auf Vergangenes schauen. Im Wunsch in die uns bekannte Vergangenheit zu flüchten, zeigt sich auch die Sehnsucht nach dem Bekannten und einer Angst vor neuen Entwicklungen. Gospodinov verklärt dies in seinem Roman nicht, sondern macht die Idee in der Vergangenheit zu leben zu einem Spielfeld. In diesem Feld verarbeitet er kunstvoll verschiedene Überlegungen zum Thema Zeit und sorgt beim Lesen für Nachdenken, aber auch melancholische Momente. Dieses Buch hat mich tief beeindrucken können.

Autor:Inneninformation

Georgi Gospodinov (1968) wurde in Jambol, Bulgaren und ist studierter Philologe. Mit seinem Debütroman „Natürlicher Roman“ erlangte er 1999 internationale Bekanntheit, ebenfalls überzeugte er als Theaterschriftsteller. Seine Werke wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und er erhielt zahlreiche Preise. Für seinen Roman „Zeitzuflucht“ erhielt er 2023 den International Booker Prize.

Werbung aus Liebe zum Buch

Wertung: 🐧🐧🐧🐧1/2🐧

Titel: Zeitzuflucht

ISBN: 978-3-7466-3996-3

https://www.aufbau-verlage.de/aufbau-taschenbuch/zeitzuflucht/978-3-7466-3996-3

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